Titel: Unendlichkeit

Author: Lexa a.k.a. Silene

Disclaimer: Alles meins!

Author's Note: Und mal wieder ein Geschreibsel von mir ^^ Ist ziemlich deprimierend, liegt einfach daran, das ich reichlich depri war, als ich's geschrieben hab. Rechnet es einfach unter Schlechte-Laune-7- Tage-Regenwetter- Story, ok? ^^

Rating: außer einer Warnung vor akuten Depressionen keins ^^

Unendlichkeit

Langsam lief das Mädchen durch die einsamen, regennassen Straßen Tokyos.

Kein Mensch war außer ihr zu sehen, natürlich nicht.

Alle hatten sich vor dem herabströmenden Regem und dem Gewitter geflüchtet und waren zu Hause.

Sie selbst war nicht geflüchtet.

Hätte auch nicht gewusst, wohin.

Denn ein Zuhause- das hatte sie nicht mehr, schon seit über einem Jahr...

Sie hatte ihr Zuhause freiwillig hinter sich gelassen, hatte es einfach nicht mehr ausgehalten.

Nicht nur die Enge und der Alltag, auch die höhnischen Bemerkungen ihrer Schwester, die Schläge ihres Vaters, das Wegsehen ihrer Mutter hatten es ihr einfach unerträglich gemacht.

Also war sie gegangen.

Einfach abgehauen.

Ihre Eltern hatten nach ihr suchen lassen, die Polizei war alarmiert worden, aber sie wusste genau, das es ihren Eltern nicht wirklich um ihre Tochter ging.

Sie hätten sich nicht um sie gekümmert, wären nur froh gewesen dieses lästige Anhängsel los zu sein, wenn nicht ihr Ruf auf dem Spiel gestanden hätte- Eltern, die sich keine Sorgen um ihr Kind machen, so etwas durfte es doch nicht geben!

Sie lächelte bitter.

Durfte es nicht geben... auch sie hätte es nicht geben dürfen, sie war ein „Unfall", wie ihre Schwester ihr immer schadenfroh vorgehalten hatte.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und vergrub die Hände noch tiefer in den Taschen ihres abgewetzten Mantels.

Sie durfte nicht weiter in der Vergangenheit bleiben, sie musste sich einzig und allein auf die Gegenwart konzentrieren, und ihr dringendstes Problem: einen Ort zu finden, an dem sie vor dem strömenden Regen und der Kälte geschützt war.

Die hellerleuchtete U-Bahn- Station erschien ihr wie die Rettung.

Sie beschleunigte ihre Schritte und lief die breite Treppe zu den Bahngleisen hinunter.

Ihre Schritte hallten durch das große Gewölbe des U-Bahnhofs.

Die kahlen Wände waren mit Graffiti beschmiert, die meisten Fensterscheiben der wenigen Geschäfte und Kioske hier unten waren eingeschlagen, Müll lag auf dem Boden.

Kein Mensch war zu sehen, wer wollte bei diesem Wetter und dieser Kälte schon hier sein?

Auf der untersten Stufe der Treppe blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Wand und rutschte an ihr herab.

Den Rücken gegen den kalten Beton gelehnt, zog sie den Mantel enger um sich, um nicht noch mehr zu frieren.

Das kalte Licht der Neonröhren fiel auf das Mädchen.

Ihr schmächtiger Körper zitterte vor Kälte, ihre Zähne schlugen hart aufeinander, das nasse braune, durch die Feuchtigkeit schwarz erscheinende Haar hing strähnig in ihr Gesicht und die großen, braunen Augen huschten ängstlich umher.

„Was machst du denn hier?" ertönte plötzlich eine strenge Stimme neben ihr.

Erschrocken fuhr sie hoch.

Der Polizist musterte sie missbilligend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

„Ich hab dich was gefragt! Antworte!" herrschte er sie an.

Sie reagiert nicht, starrte ihn nur an, mit Panik in den Augen wie ein Tier, das in der Falle sitzt.

„Lunger hier gefälligst nicht rum? Verschwinde sofort, oder du wanderst ins Kittchen, ist das klar?"

Seine Stimme tat ihr in den Ohren weh, war so erbarmungslos, kalt und angewidert.

Er wollte nach ihr greifen, aber sie drehte sich schnell um und stürmte wieder die Treppe hinauf.

Lieber weiter durch den Regen irren, als ins Gefängnis zu kommen.

Denn dort würde man sie zweifellos wieder zu ihren Eltern bringen, und das wollte sie um jeden Preis vermeiden.

Also rannte sie so schnell sie konnte die Stufen empor und hätte fast eine alte Frau umgerannt, die gerade die U-Bahn-Station hatte betreten wollen.

Wütend schrie die Frau auf. „Pass gefälligst auf, du Göre!"

Sie hielt sich die Ohren zu, um die Worte der Frau nicht hören zu müssen, aber diese zeterte immer weiter.

„Ja, die Jugend von heute! Nur auf der Straße rumhängen, nichts ordentliches lernen! Alles Versager, die nie gelernt haben, was es heißt zu arbeiten, Faulenzer, Drogensüchtige, Penner, Diebe, Räuber, Mörder und was weiß ich noch alles! Einsperren müsste man solche wie dich, in meiner Jugend hat man solches Gesindel erschossen! Mach das du hier weg kommst, du Taugenichts!"

Das Mädchen schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, den harten Worten zu entrinnen.

Es tat weh, immer noch, obwohl sie sich mittlerweile an die abfälligen, angewiderten und wütenden Blicke und Bemerkungen hätte gewöhnen müssen; aber sie hatte es nicht.

Vielleicht gehörte sie nicht wirklich hier her, weil es sie immer noch verletzte, Penner und Taugenichts genannt zu werden.

Sie blieb unschlüssig stehen.

Mittlerweile war sie bei ihrem Unterschlupf angekommen, einem halbverfallenen Hauseingang eines alten Industriegebäudes.

Sie sah nach oben.

In einem der höheren Fenster, auf der von der Straße abgewandten Seite leuchtete in einem der zerbrochenen Fenster ein schwaches, flackerndes Licht.

Die anderen hatten wohl ein Feuer angezündet. Sie hätte zu ihnen hinaufgehen können, blieb aber nachdenklich stehen.

Die anderen...

Kinder und Jugendliche wie sie, ohne Zuhause, ohne Hoffnung, ohne Zukunft.

Da war Aron, der ein einem Autounfall sein Gedächtnis verloren hatte und seitdem, weil er nicht wusste, wer er war und woher er kam, auf der Straße lebte.

Er war ein mürrischer Geselle, sprach nur wenig und hielt sich immer ein wenig abseits.

Sie mochte ihn.

Dann war da Hassib, der kleine israelische Junge, der durch eine Landmine in seiner Heimat das linke Bein verloren hatte und nun stets auf Krücken durch die Gegend humpelte.

Seine Eltern hatten ihn nach Deutschland geschickt, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen; aber die Behörden hatten ihn ausgewiesen.

Also war Hassib geflüchtet, denn lieber lebte er hier auf der Straße als in seiner eigentlichen Heimat immer auf der Hut vor Bomben und Minen sein zu müssen.

Die nächste war Becky, die mit 9 Jahren aus dem Heim abgehauen war, nachdem ihre dritte Pflegefamilie sie resigniert „zurück gegeben" hatte, weil sie mit dem verschüchterten, abweisenden und aggressiven Mädchen nicht zurecht kamen.

Sie stand den ganzen Tag mit ihrer Klarinette, dem einzigen, was sie aus dem Heim mitgenommen hatte, in der Fußgängerzone um etwas Geld zu verdienen.

Der letzte im Bunde war Tom, der eigentlich nie nüchtern anzutreffen war und die Zeit meist schnorrend in den Fußgängerzonen verbrachte.

Das Mädchen seufzte, als sie an ihre Freunde dachte.

Freunde?

Nein, es war nur die Not, die sie zusammenschweißte.

Die Gewissheit, das sie alle keine Zukunft hatten, verband sie.

Sie würden ihr Leben auf der Straße verbringen, bis sie entweder von der Polizei aufgegriffen wurden oder schlussendlich an Kälte oder Hunger starben, vergessen von der Welt.

Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen.

Nein, nicht vergessen.

Die Welt und die Menschen in ihr hatten sie nur aus ihren Gedanken verbannt, weil sie nicht in ihr selbstgerechtes, zufriedenes Weltbild passten!

Sie verschlossen die Augen vor ihnen, vor dem, was neben ihnen existierte.

Ihre vergessenen Kinder... Aron, Hassib, Becky, Tom… sie alle hatten resigniert, hatten aufgegeben, hatten keine Träume mehr.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

Nein, sie war nicht wie die anderen.

Denn sie hatte im Gegensatz zu ihnen noch Hoffnung.

Sie lächelte.

Sie würde nicht hier bleiben und abwarten, bis das Schicksal sie schließlich sterben ließ.

Nein, sie würde ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen...

Entschlossen drehte sie sich um.

Während sie durch die Straßen rannte, ihrem unbekannten Ziel folgend, und der Regen sie immer noch durchnässte, erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.

Der Regen mischte sich mit den Tränen auf ihrem Gesicht, aber sie lächelte.

Lächelte, als sie das Hochhaus, in dem sie einst gelebt hatte, vor sich auftauchen sah.

Lächelte, als sie die Haustür öffnete.

Lächelte, als sie die Treppen nach oben stürmte, vorbei an der Wohnung ihrer Familie.

Lächelte immer noch, als sie schließlich auf dem Dach des Wolkenkratzers stehen blieb.

Sie trat langsam an den Rand der Plattform.

50 Stockwerke unter ihr prasselte der Regen auf den Asphalt und bildete unzählige Rinnsale, die sich über den Fußweg schlängelten.

Nur wenige Zentimeter trennten ihre Füße vom Abgrund.

Dieses Gefühl, dem Tod so herrlich nah zu sein... hier war sie frei.

Plötzlich wusste sie, nach was sie sich ihr ganzes Leben schon gesehnt hatte- der Freiheit.

Sie strich sich die Haare zurück, hob ihr Gesicht in den Wind und ließ zu, das die Regentropfen darauf tanzten.

Ja, sie würde ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen...

Sie sah in den wolkenverhangenen, unendlichen Himmel, als sie den entscheidenden Schritt nach vorne tat, einen Schritt in die Unendlichkeit.

Ende (?)