Blutsband
Cay Reet
An diesem Abend ließ sich Gabriel Zeit mit dem Aufstehen. Er grübelte immer noch über die Lösung seines Problems nach. Fest stand eins: Er kam immer noch nicht ohne eine Hilfe aus. Als Vampir war man tagsüber einfach zu ungeschützt und unbeweglich. Genauer gesagt schlief man den ganzen Tag zwar nicht den 'Schlaf der Gerechten', aber zumindest einen höllisch tiefen. Er konnte es also drehen und wenden wie er wollte, er würde sich einen neuen Sklaven zulegen müssen.
Wer bei 'Sklave' an das alte Rom denkt, liegt falsch und doch wieder nicht. In der Sprache der Vampire wird der Begriff 'Sklave' für Menschen gebraucht, die durch ein Blutsband mit einem Vampir verbunden sind. Solche Menschen bleiben völlig normal, von einer Ausnahme abgesehen: So lange sie alle paar Monate ein bißchen Vampirblut von ihrem Herrn bekommen, altern sie nicht. Sklaven sind ihrem Herrn gegenüber völlig loyal, allerdings nicht aus eigenem Willen heraus. Sie können nichts tun oder zulassen, das ihm Schaden zufügt (wie der Besuch eines Vampirjägers mit Hammer und Pfahl…). Sklaven sind für einen Vampir die einzige Möglichkeit, Einfluß auf Geschehnisse bei Tageslicht zu nehmen, daher sind sie selbst in den Zeiten von Internet, Homeshopping und Onlinebanking immer noch wichtig.
Selbst unter den Vampiren nahm Gabriel eigentlich eine Sonderstellung ein. Er war alt – selbst nach den Maßstäben der Untoten ist man mit achthundert Jahren alt, auch wenn man nicht so aussieht. Sein Vermögen war kaum noch schätzbar. Er liebte es einfach, sich mit dem Börsenmarkt zu befassen, und konnte es nicht lassen, in gute Aktien zu investieren. Daher verdiente er mittlerweile jeden Tag mehr als er in einem Monat ausgeben konnte, sein Lebensstil war also gesichert. Aber er war auch eitel, schon immer gewesen, selbst in seinem ersten Leben (als Mensch). Zu seiner Zeit, im tiefsten Mittelalter also, galt Eitelkeit dummerweise noch als eine der sieben Todsünden. Seinem Vater hatte die Bessessenheit seines älteren Sohnes vom eigenen Aussehen gar nicht gefallen. Wenn es nach dem alten Mann gegangen wäre, hätte Gabriel lieber seine Zeit mit Waffentraining oder wenigstens mit der Jagd verbringen sollen. Aber da war ja auch noch David gewesen, Gabriels Bruder, der ganz auf den Alten herauskam. Nach seinem Tod hatte sich Gabriels Sinn für Schönheit noch gesteigert. Sein Körper blieb so, wie er zum Zeitpunkt des Todes gewesen war, also mußte er sich um die Erhaltung der eigenen Schönheit keine Sorge machen. Langsam hatte er damit begonnen, nach Schönheit und Ästhetik in seinem Umfeld zu suchen. Sich den nächstbesten Mann von der Straße zu ziehen, um ihn zum Sklaven zu machen, kam daher nicht in Betracht. Aber vielleicht konnte ja auf der Party jemand gefunden werden. Kam die Einladung also doch noch recht…
Gabriel stand auf und verließ sein 'Schlafzimmer', einen geheimen Raum mitten im Haus. Der Architekt hatte vor hundert Jahren ziemlich gestaunt, als sein Auftraggeber dieses Zimmer forderte, aber damals hatten Angestellte noch nicht nachgefragt, sondern bloß ihren Job gemacht. Durch einen kurzen Gang kam Gabriel in sein offizielles Schlafzimmer und sah sich nachdenklich in seinem Schrank um. Mode war auch ein Problem, wenn man nur nach Einbruch der Dunkelheit ausgehen konnte. Zum Glück gab es immer noch genug Schneider, die für ein bißchen mehr Geld auch gern kurz vor Mitternacht ins Haus kamen. Dennoch hatte Gabriel im Großen und Ganzen kein Problem mit seinem zweiten Leben, seinem Leben als Vampir. Er liebte es, sich die Wandlungen im Laufe der Zeit anzusehen, konnte sich immer wieder für die neuen Zeiten begeistern und genoß jeden Augenblick seines Unlebens.
Nachdem er sich entsprechend zurecht gemacht hatte, nahm er in der Küche einen Schluck Blut – auch Blutbanken sind käuflich und die paar Liter, die ein modern denkender Vampir einkaufte, fielen kaum auf. Er würde den größten Teil der Nacht die Körperwärme aufrecht erhalten müssen, dazu brauchte er Blut. Frisch gestärkt setzte er sich ans Steuer seines Wagens. Gabriel hatte einen Führerschein, wenn er auch gefälscht war, und schon zu Pionierzeiten ein Auto besessen. Er fuhr besser als jeder Mensch, auch wegen der schnellen Reflexe, die Vampiren eigen sind.
Die Party war langweilig. Damit hatte Gabriel gerechnet. Es war eine snobistische Angelegenheit, auf der man mit seinem Geld angab, seine Kontakte knüpfte und so tat, als würde man sich tatsächlich amüsieren. Trotzdem war es ein gutes Jagdrevier, auch wenn Gabriel nicht nach einem Opfer suchte. Sein Blick galt in erster Linie den jungen Männern, die sich auf dem weitläufigen Gelände bewegten. Sie waren alle wohlhabend und auf der Suche nach Mentoren, die ihnen in Geschäftsdingen weiterhelfen konnten. Daß dabei auch die eine oder andere nicht ganz druckreife Beziehung entstehen würde, galt als unaussprechlich, war aber trotzdem die Wahrheit. Mit einem halbvollen Weinglas in der Hand schlängelte Gabriel sich zwischen den Anwesenden durch und hielt die Augen offen.
Tatsächlich können Vampire ganz nach Wunsch essen oder trinken, allerdings kann ihr Körper die Nahrung nicht mehr verarbeiten. Die meisten Vampire halten sich daher nicht mit dererlei Kleinigkeiten auf, auch Gabriel nicht, außer in der Öffentlichkeit.
Prüfend wanderte Gabriels Blick über die Anwesenden, er besah sich einige junge Männer etwas näher, entschied sich aber jedes Mal gegen die Ausgewählten. Sie waren alle attraktiv, darauf legte er Wert, aber sie schienen nichts im Kopf zu haben. Am Buffet fiel ihm ein junger Mann auf, der ganz und gar nicht in die Gesellschaft zu passen schien. Er war hochgewachsen, sicher noch zehn Zentimeter größer als Gabriel selbst. Sein Körper war schlank, nicht durchtrainiert, wie es im Moment Mode war. Dunkles Haar, etwas länger als in Geschäftskreisen üblich, fiel ihm bis zu den Schultern. Aber all das bemerkte der Vampir nur nebenbei. Sein Blick hatte sich am Gesicht des jungen Mannes festgesogen. Weiche, fast schon weiblich wirkende Linien durchzogen dieses Gesicht, gaben ihm einen unschuldigen und sanften Ausdruck. Ein Paar warmer, dunkler Augen dominierten die obere Hälfte und ein voller, sensibler Mund die untere. Irgendwie wirkte er verloren, so als gehöre er nicht dazu. Gabriel wollte diesen Mann näher kennenlernen, rasch ging er auf ihn zu. Die Scheu, die viele Männer davor haben, einen attraktiven Geschlechtsgenossen anzusprechen, war ihm völlig fremd. Wie jedes Raubtier setzte er sich ein Ziel und verfolgte es bis zum bitteren Ende.
„Hallo", sagte er schließlich schlicht.
Der junge Mann zuckte leicht zusammen, anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. „Hallo", antwortete er dann schüchtern.
„Ich bin Gabriel."
„William." Die sanfte Stimme paßte zu ihrem Besitzer.
„Du scheinst nicht hier zu sein, um Beziehungen zu knüpfen."
„Ich weiß, daß sich für mich keiner interessiert. Dazu bin ich zu verträumt. Aber was ist mit dir?"
Gabriel lächelte. „Ich brauche keine Beziehungen mehr, davon habe ich mehr als genug. Ich bin bloß zum Spaß hier."
„Wirklich?"
„Ja, klar." Gabriel trank sein Glas aus und stellte es beiseite. „Manchmal trifft man auf solchen Veranstaltungen interessante Leute."
William schoß das Blut in die Wangen, ein appetitlicher Anblick für seinen vampirischen Gesprächspartner. Er sah sich nervös um und griff ungeschickt nach einem vollen Glas. Für einen Moment sah es nach einer Katastrophe aus, aber zu Gabriels Erstaunen gelang es dem jungen Mann, das Glas abzufangen, ohne mehr als ein paar Tropfen zu verschütten.
„Du bist wirklich geschickt", stellte er fest.
William schüttelte den Kopf. „Nein, nur schon sehr lange sehr schusselig. Daran bin ich gewöhnt."
„Sei nicht so hart zu dir selbst. Vielleicht bist du schusselig und vielleicht bist du auch verträumt, aber das muß noch lange nicht schlecht sein."
„Ach ja?" Verbitterung brach in Williams Stimme durch. „Ich war auf Hunderten von diesen Veranstaltungen, aber keiner interessiert sich für mich. Ich verstehe eine Menge von Philosophie, Wissenschaften und Kultur, aber für diese Typen bin ich nur ein nichtsnutziger Träumer, der es nie zu etwas bringen wird. Davon kann man nicht leben, sagen sie mir."
„Man konnte es aber mal." Gabriel selbst interessierte sich brennend für all diese Themen. Wenn man Jahrhunderte lang existiert, kann man sich viel Wissen aneignen. „Wissen ist immer nützlich, auch wenn es manchmal nicht so aussieht."
„Wenn mehr Leute dächten wie du, hätte ich vielleicht eine Chance. Aber so werde ich meinen Vater wieder enttäuschen."
„Eine Person, die so denkt wie ich, genügt völlig." Gabriel spürte die Verzweiflung seines Gegenübers fast körperlich. Dieser junge Mann war die perfekte Wahl. Er hatte sich durch die schlechten Erfahrungen so sehr abgekapselt, daß es nicht schwer sein würde, ihn ganz zu besitzen. Doch noch war es nicht so weit. Es würde weitere Treffen geben, noch nie war Gabriel eine Beute entwischt…
Wenn Gabriel etwas tat, dann tat er es richtig. Er begann, an allen Fäden zu ziehen und alle Beziehungen zu nutzen, um die Schritte des jungen Mannes vorauszuahnen. Wo immer William Lloyd hinging, Gabriel war da. Er besuchte mehr Galerien und Theater als jemals zuvor. Zwar hatte ihn Kunst schon immer interessiert und Theater waren ihm lieber als das Kino, vielleicht weil sie ihm besser bekannt waren. Doch er hatte kaum die Gelegenheit wahrgenommen, sich unter die Menschen zu mischen, wenn er nicht nach einem Opfer suchte.
Gleichzeitig machte er sich daran, so viel wie möglich über das Umfeld seines Ziels zu erfahren. Was dabei zutage kam, war nicht besonders angenehm. Die Familie Lloyd saß schon seit vielen Generationen in der Stadt, aber jede Generation schien tiefer als die vorherige in dunkle Geschäfte verstrickt zu sein. Mittlerweile gab es kaum noch Zweifel daran, daß sie insgeheim die Stadt regierten. Wer sich nicht bestechen ließ, verschwand, alle anderen arbeiteten im Sinne der Familie. Aber diese Tatsache machte Gabriel keine Angst. Sie mochten mächtig sein, aber sie waren sterblich. In ein paar Jahrhunderten würde keiner mehr ihren Namen kennen. Gabriel hatte schon andere Gefahren gemeistert. In den einschlägigen Kreisen sagte man allgemein, daß William ein Sonderfall in seiner Familie war. Zu einem Verbrecher schien er nicht zu taugen, doch das hätte der Vampir bereits nach der ersten Begegnung sagen können.
Jede Jagd muß ein Ende haben und Gabriel hatte eine Vernissage zum Ende seiner Jagd bestimmt. Bisher hatte er immer darauf geachtet, nur oberflächliche Bemerkungen mit seiner Beute zu wechseln, diesmal war es anders. Er verwickelte den jungen Mann in eine Diskussion über Kunst und behielt dabei unauffällig die beiden Leibwächter im Auge. Langsam bewegte er sich aus ihrem Blickfeld und lockte seinen Begleiter mit sich fort. Als er sich sicher sein konnte, daß die beiden Männer ihnen folgen würden, packte er William und zog ihn mit zur Hintertür.
„Was willst du von mir?" fragte der junge Mann erschrocken. „Wenn die Bodyguards zu uns aufschließen, wird es dir leid tun."
„Jemand wird dann leiden, aber das werde nicht ich sein." Gabriel riß die Stahltür auf, schob den jungen Mann durch und knallte sie zu. Er legte so viel Wucht in den Stoß, daß das Metall sich verbog und die Tür festsaß – absichtlich. Nun mußten sie durch das Gebäude zurück, zwei Querstraßen weiter und dann durch eine schmale, kaum zu findende Seitengasse. Gabriel wählte seine Jagdreviere immer mit Bedacht.
William starrte auf die verbogene Tür. „Was bist du?" stieß er dann hastig hervor.
„Du bist ein kluger Junge, William", antwortete Gabriel lächelnd. „Aber was ich bin wirst du früh genug erfahren."
„Bleib weg von mir!" William riß die Arme hoch und wollte den Vampir von sich stoßen – vergebens.
Gabriel packte die Handgelenke und drückte die Arme zur Seite. Der Rücken des anderen wurde gegen eine Wand gepreßt. Zwar war er kleiner als sein Gegenüber, aber gut sieben- bis achtmal so stark. Er spürte den rasenden Puls des jungen Mannes an den Handflächen. Seine Blutgier erwachte, aber er zügelte sie, so wie er es von seinem Schöpfer gelernt hatte. Die Blicke der beiden Kämpfer trafen sich: kaltes Blau und warmes Braun, der eine grausam und der andere sanft. Selbst im Kampf um sein Leben fehlte William die Härte. Er hätte sich auch nicht gegen einen menschlichen Angreifer verteidigen können.
„Gib es auf", wisperte Gabriel, „du kannst nicht gewinnen."
Der junge Mann antwortete nicht, weiter kämpfte er gegen einen Griff, den kein Mensch hätte brechen können. Doch seine Bewegungen erschlafften schnell. Langsam sank er an der Wand entlang zu Boden. Gabriels scharfe Ohren nahmen das Geräusch schneller Schritte wahr, also kamen die Bodyguards. Er ließ von seinem Opfer ab und drehte sich um. William witterte seine Chance und versuchte, sich aufzurappeln, aber er hatte sich zu sehr verausgabt. Keuchend blieb er auf dem Boden sitzen.
Die beiden breit gebauten Männer standen im Zugang zur Gasse, versperrten den einzig gangbaren Fluchtweg. Dummerweise wollte Gabriel gar nicht fliehen. Er sprang ihnen regelrecht entgegen, ein schlanker Mann von knapp einsachtzig, normalerweise keine Bedrohung für sie. Sie rissen ihre Waffen heraus und schossen. Bleikugeln bohrten sich in untotes Fleisch, aber für den Vampir waren sie nicht mehr als ein paar Mückenstiche. Er fauchte leise, packte den ersten, riß ihn hoch über den Kopf und schleuderte ihn gegen die nächste Wand. Mit einem Übelkeit erregenden, aber leisen Geräusch wurden die Knochen zertrümmert, der Mann gab nur noch ein kurzes Gurgeln von sich, bevor seine Augen brachen. Schon bevor sein zerschmetterter Körper den Boden erreicht hatte, war er tot. Der zweite Leibwächter starrte auf den Angreifer und seinen Partner, Unverständnis in den Augen. Dann machte er langsam einen Schritt zurück, aber es war längst zu spät. In dem Moment, in dem Gabriel seine Angreifer gehört hatte, waren sie eigentlich schon tot gewesen. Wie ein Todesengel schwebte der Vampir lautlos auf ihn zu, viel zu schnell für einen Menschen. Hände mit langen, scharfen Nägeln legten sich um seinen Hals und drückten unbarmherzig zu, bis auch das zweite Augenpaar brach. Kein Schrei war mehr möglich, in aller Stille starben die beiden Bodyguards in einem schmutzigen Hinterhof.
Als Gabriel sich umdrehte, starrten ihn ungläubige, dunkelbrauen Augen an. Sie waren voller Angst und Entsetzen.
„Bleib mir vom Leib!" schrie William. Seine Stimme zerschnitt die Luft, doch weit und breit war nur einer, der sie hören konnte. Und der hatte nicht die Absicht, zu gehorchen.
„Ich habe dir gesagt, daß jemand leiden wird, William", antwortete er. „Aber sie sind doch recht schnell gestorben."
Mittlerweile war der junge Mann wieder so stark, daß er aufstehen konnte. Aber seine Beine zitterten, er konnte kaum gehen, geschweige denn weglaufen. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab.
„Laß mich in Ruhe, du Monster!"
Langsam ging Gabriel auf sein Opfer zu. „Dazu ist es zu spät. Anders als viele meiner Art empfinde ich das Töten nicht als besonders angenehm. Ich habe zu viel getan, um jetzt auf den Preis zu verzichten."
„Wirst du mich auch töten, so wie sie?"
„Was glaubst du?" konterte der Vampir trocken. „Hätte ich das gewollt, du wärst tot gewesen, bevor sie kamen."
Gabriels Finger glitten in den Nacken des jungen Mannes. So sehr sich William auch sträubte, sein Kopf neigte sich immer mehr dem seines Angreifers zu. Mit der zweiten Hand riß der Vampir den Hemdkragen seines Opfers auf. Es gibt viele Stellen, an denen das Blut dicht unter der Haut fließt, aber die meisten Vampire bevorzugen die Kehle – eher eine Tradition, denn eine Notwendigkeit. William schob die Hände zwischen sich und Gabriel, versuchte erneut, den anderen von sich zu stoßen, aber im selben Moment fuhr Gabriel seine Reißzähne aus und schlug sie in sein Opfer. Williams Finger krallten sich in das Hemd des anderen, er stieß einen halb erstickten Schmerzensschrei aus.
Dann setzte die Extase ein, die normalerweise den Biß eines Vampirs begleitet. Der junge Mann schloß die Augen und entspannte sich langsam. Gabriel schlang den Arm um sein Opfer, damit es nicht stürzte, dann begann er zu trinken. Er nahm nicht viel Blut. Ein Austausch war zwar für die Schaffung eines Sklaven notwendig, aber es mußte nicht sein, daß er seine Beute dabei in Gefahr brachte. Schnell zog er die Zähne wieder ins Zahnfleisch zurück und ließ William zu Boden gleiten. Er preßte den Nagel seines linken Zeigefingers gegen die Innenseite des rechten Handgelenks und schlitzte sich die Haut auf. Ein paar Tropfen seines Blutes fielen auf Williams leicht geöffnete Lippen und rannen in seinen Mund. Mehr war auch nicht nötig, die Verbindung war bereits im Entstehen begriffen. Gabriel zog sein Opfer wieder hoch und fuhr mit der Zunge über die Bißwunde am Hals. Sie schloß sich sofort und ohne Spuren. Dann hob der Vampir seinen neuen Sklaven hoch und trug ihn auf Schleichwegen zu seinem Wagen. Es würde einige Stunden dauern, bis der Prozeß abgeschlossen war und Gabriel gedachte, sie nicht in diesem Hof zu verbringen. Zurück blieben zwei Leichen, die der Polizei noch Rätsel aufgeben sollten.
Zwar konnte er William überall finden, sobald das Band stabil war, aber für den ersten Tag entschloß sich Gabriel trotzdem zu einer Sicherheitsmaßnahme. Neben seinem eigenen Raum im ersten Stock gab es noch eine zweite versteckte Kammer im Keller. Der Raum wurde durch eine Reihe von Gitterstäben in eine Zelle und einen Vorraum geteilt. Gabriel brachte seine Beute in die Zelle und sorgte für etwas zu essen und zu trinken, bevor er sich zurückzog. Im Moment schlief William, aber das würde nicht lange anhalten.
Ein Tag verstrich. William wachte gegen Mittag auf, fand sich in einer Zelle wieder und erinnerte sich langsam an fast alles, was ihm in der vorherigen Nacht passiert war. Nur zwei Lücken blieben: der Kampf gegen den übermächtigen Gegner, den sein Verstand nicht wahrhaben wollte, und der Biß. Letzteres ist nicht ungewöhnlich, auch wenn William das nicht wissen konnte. Die Extase verschleiert den Biß an sich, das Opfer kann sich nur daran erinnern, etwas ungeheuer Lustvolles erlebt zu haben, klammert den Schmerz dabei aber aus. Zusammen mit der Fähigkeit, Wunden zu verschließen, verschafft diese Eigenheit des Bisses den Vampiren einen gewissen Schutz: Selbst ihre Opfer können sich nicht an den Biß erinnern und halten den Rest für eine Fantasie – oder guten Sex mit einem besonders erfahrenen Partner. William rüttelte an den Gitterstäben, versuchte die Tür aufzubrechen, aber alles umsonst. Er konnte nicht wissen, daß die Zelle stabil genug war, selbst einem Vampir standzuhalten, dafür hatte Gabriel sie nämlich konstruieren lassen. Während William notgedrungen wartete, stieg sein Zorn, zum ersten Mal in seinem Leben wurde er richtig wütend.
Das ließ er dann auch an Gabriel aus, als dieser den Vorraum betrat. Aber der Vampir störte sich nicht daran, er konnte die Gedankengänge des jungen Mannes selbst zu gut nachvollziehen.
„Was hast du jetzt mit mir vor, du Psychopath?" fragte William schließlich. Er stand direkt hinter den Gitterstäben und umklammerte zwei davon mit seinen Fingern.
„Was getan werden mußte, ist getan." Gabriel trat auch ans Gitter. „Das Band hat sich stabilisiert, auch wenn du nichts davon merkst."
„Band? Wovon zum Teufel redest du?"
„Ein Blutsband. Es verbindet uns beide, aber die meiste Information fließt in meine Richtung. Du kannst mir nicht mehr entkommen."
„Blutsband? Was für ein mystischer Unsinn. Das ist doch alles Aberglaube."
„Kannst du dich an die letzte Nacht erinnern?" fragte Gabriel lauernd.
„Du hast mich aus der Galerie gezerrt, meine Leibwächter umgebracht und …" William verstummte. Was war danach gewesen?
„Dein Gedächtnis ist nicht gerade lückenlos, aber es ist normal, daß du dich an den Biß nicht mehr erinnerst."
„Biß? Du hast mich gebissen? Wohin?"
„Gib dir keine Mühe." Gabriel lächelte amüsiert. „Du wirst die Stelle nicht mehr finden, ich habe sie geschlossen."
„Geschlossen? Was bist du?"
„Ein Vampir."
„Ein gefährlicher Irrer, der sich für einen Vampir hält, meinst du wohl."
Gabriel öffnete den Mund und ließ seine Fänge vorschnellen. Mit einem Entsetzensschrei wich William zurück, bis er an die Wand der Zelle stieß.
„Oh, verdammt", wisperte er fassungslos.
„Ein echter Vampir." Spöttisch verneigte sich Gabriel tief. „Achthundert Jahre geister ich jetzt so ungefähr über diese Erde."
„Achthundert", wiederholte William ungläubig. Er setzte sich auf die Pritsche, auf der er geschlafen hatte, und stützte den Kopf in die Hände. Dann fiel ihm etwas ein: „Meine Familie. Sie wird mich suchen. Du hast große Probleme."
„So wie mit den Leibwächtern?" fragte der Vampir.
„Ich würde dir sogar persönlich das Lebenslicht auspusten."
„Würdest du nicht."
„Würde ich doch!"
„Würdest du nicht, aus drei Gründen." Gelassen hob Gabriel den Zeigefinger. „Erstens, ich bin seit achthundert Jahren tot. Allzuviel Lebenslicht kann man da nicht mehr auspusten." Der Mittelfinger kam dazu. „Zweitens, du weißt nicht, wie man einen Vampir vernichtet. Es gibt nur zwei sichere Methoden und das im Film so beliebte Pfählen ist keine davon." Der Daumen schloß sich an. „Drittens, nun, da das Band stabil ist, kannst du mir keinen Schaden mehr zufügen, weder direkt noch indirekt."
„Du lügst!"
Gelassen holte Gabriel einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete damit das Schloß der Zellentür. Dann reichte er William ein zugespitztes Stück Holz.
„Versuch es. Versuch, mir diesen Pfahl in Herz zu stoßen."
Einladend lehnte er sich gegen die Wand. Williams Finger umklammerten den Pfahl. Er hob ihn an und schaffte es, ihn über dem Herzen auf den Brustkorb zu setzen. Aber als er zustoßen wollte, zitterte sein ganzer Körper und er fiel auf die Knie. Polternd landete der Pfahl auf dem Boden und rollte davon.
„Ich … ich kann es nicht!" stieß er hervor.
„Nein, du kannst es nicht."
Tränenblind sah William auf. „Warum?" flüsterte er. Dann holte er tief Luft und schrie nochmal: „Warum?!"
Er kämpfte sich wieder auf die Beine und stolperte auf Gabriel zu. In hilfloser Wut schlug er mit den Fäusten gegen die Brust des Vampirs, dessen Geist die Schläge als viel zu schwach abtat, um sich dagegen zu schützen. Er wartete, bis William sich erschöpft hatte und langsam zurückwich.
„Verdammt nochmal, sag mir endlich, warum du mir das angetan hast! Sag mir, warum du mich versklavt hast!"
Gabriel schwieg einen Moment, dann antwortete er: „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt."
„Du bist krank", stellte der junge Mann zornig fest.
„Das stammt nicht von mir. Dafür ist Johann Wolfgang von Goethe verantwortlich."
Trotz der düsteren Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, horchte William auf. „Was?"
„Das waren zwei Zeilen aus dem 'Erlkönig'."
„Na toll, Literatur-Vorlesung im Kerker. Das wird bestimmt der Hit, deine Schüler können dir dann wenigstens nicht weglaufen."
„Du mißverstehst mich, William. Du bist nicht mein Gefangener. An welchem Ort der Welt du dich auch befindest, ich kann dich überall finden. Daher brauche ich dich jetzt nicht mehr einzusperren."
„Du läßt mich gehen?"
Schweigend deutete Gabriel auf die Tür. Erst nach ein paar Sekunden sprach er weiter: „Sie ist offen. Keine Tür in diesem Haus ist versperrt. Selbst die Haustür und das Tor zur Straße lassen sich von innen jederzeit öffnen. Ich will dich bei mir haben, aber ich will dich nicht in einen Käfig sperren. Ich liebe nicht nur dein Äußeres, William, ich liebe auch dein Wesen. Dich gegen deinen Willen hier festzuhalten, würde ihn langsam brechen. Dann wäre deine Seele nur noch ein zersprungener Spiegel."
Williams Herz schlug heftig, sein Kopf schwirrte. Er verstand die Welt nicht mehr. „Erst bringst du mich hierher, dann beißt du mich und machst mich zu deinem Sklaven, dann sperrst du mich in eine Zelle und am nächsten Abend öffnest du einfach die Tür und sagst, ich könne jederzeit gehen?"
„Das klingt merkwürdig, aber es stimmt, bis auf ein Detail: Ich habe dich gebissen, bevor ich dich hergebracht habe."
„Und was ist deine Seite des Paktes? Du kannst mich immer und überall finden, ich kann dir auch nicht mehr schaden. Aber was habe ich davon?"
„Das wirst du noch erfahren." Gabriels blaue Augen glitzerten. „Wolltest du nicht gehen? Soll ich dir ein Taxi rufen?"
William sah ihn verwirrt an. „Hast du es jetzt eilig, mich loszuwerden?"
„Nein, niemals. Aber du hattest es doch so eilig, von hier wegzukommen."
Eine halbe Stunde später stand William wieder in der Stadt. Er ging nach Hause, aber er konnte niemandem erzählen, wo er den letzten Tag verbracht hatte oder was seinen Leibwächtern passiert war. Das Band hinderte ihn daran, er konnte Gabriel nicht in Gefahr bringen. Stattdessen sperrte er sich in seinem Zimmer ein und versuchte, seine Gedanken in Ordnung zu bringen. Sein Vater, sein Onkel und sein jüngerer Bruder versuchten, ihm ins Gewissen zu reden. Es sei nichts dabei, wenn er mit einer Frau zusammengewesen sei, meinten sie. Oder wenn er sich betrunken und dann in einem Hotelzimmer den Rausch ausgeschlafen habe. Das könne in seinem Alter doch passieren. Von der Wahrheit waren sie meilenweit entfernt.
Zum ersten Mal sah William in einen Spiegel und versuchte dabei, sich vorzustellen, was den Vampir an ihm so gereizt haben konnte. Aber er sah nur sein Gesicht, das so wenig männlich war, seine verträumten Augen, die nie jemanden direkt ansehen konnten. Wo war diese 'schöne Gestalt'? Er war knapp davor, den Spiegel zu zerschlagen, ihm war danach, sich selbst zu verletzen. Aber er widerstand der Versuchung und warf sich aufs Bett.
Am nächsten Tag wurde es auch nicht besser. Er blieb verschwiegen, wich den Fragen der Familie aus, lehnte es kathegorisch ab, sich in Zukunft von zwei neuen Leibwächtern begleiten zu lassen. Nach Sonnenuntergang nahm er seine Jacke und flüchtete regelrecht aus dem Haus. In Gedanken versunken ging er durch die Straßen und fand sich unverhofft in dem Hinterhof wieder. Ihn schauderte und er wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf die Wand neben dem Notausgang fiel. Dort lag ein heller Fetzen Stoff – ein Teil des Hemdkragens, den er eingebüßt hatte. Er hob den Fetzen auf und strich mit den Fingerspitzen über die rauhe Backsteinmauer. Plötzlich kehrte die Erinnerung zurück, die er verdrängt hatte: der Kampf und der Biß – besser gesagt, was vor dem Biß passiert war. Er konnte regelrecht die kalten Hände spüren, die seine Arme so leicht festhalten konnten. Es war, als würden seine Arme wieder gegen die Wand gedrückt, als würde er sich nochmal im Griff des Vampirs winden. Zitternd ließ er die Wand los und drehte sich um. Sein jüngerer Bruder stand vor ihm.
„John?" fragte er verwirrt.
„Was ist mit dir wirklich passiert? Das war keine Frau und auch kein Alkohol." John Lloyd war noch einen Hauch größer als sein Bruder. Langsam kam er auf William zu, sah aus wie jemand, der sich Sorgen machte. Dann zog er unvermittelt eine Pistole.
„Was soll das?" William starrte in die Mündung. „John?"
„Du wärst nie ein gutes Oberhaupt geworden", antwortete sein Bruder. „Und jetzt sieht es fast so aus, als wärst du verrückt geworden."
Traurig schüttelte William den Kopf. „Ich wollte die Familie nie anführen, das weißt du so gut wie ich. Und wenn du erlebt hättest, was mir passiert ist, dann würdest du auch verrückt werden."
„Dann sag es mir!" Die Stimme seines Bruders war plötzlich kalt und streng.
„Ich kann nicht, das ist auch Teil dessen, was mir passiert ist."
„Hier? Was war mit den Leibwächtern? Hast du sie etwa umgebracht?"
„Hältst du mich für fähig, so etwas zu tun?" Ungläubig sah William John ins Gesicht. „Hältst du mich für stark genug, sie so zuzurichten? Jeder von denen hatte fast zweimal mein Gewicht."
„Wer weiß." John schien über etwas nachzudenken. „Es genügt als Erklärung."
„Erklärung?"
„Warum ich dich erschossen habe." Die Waffe schwang wieder in Williams Richtung. „Du machst es mir jetzt so leicht, großer Bruder. Ich werde deinem Leben hier ein Ende setzen und später behaupten, du hättest mir gestanden, daß du die Leibwächter umgebracht hast. Dann wolltest du mich töten und ich mußte mich schließlich wehren. Die Familie wird dich in aller Stille beisetzen und ich werde das nächste Oberhaupt."
Immer hatte William gewußt, daß sein Bruder ausgesprochen ehrgeizig war. Aber bisher hatte er sich nichts daraus gemacht. Jetzt wurde ihm sein Fehler deutlich vor Augen geführt. Wenn er nicht genau gewußt hätte, daß all das, an das er sich erinnerte, wirklich passiert war, er hätte sich auch für wahnsinnig gehalten.
„John!" schrie er und hob die Arme.
Im gleichen Moment leuchtete das Mündungsfeuer auf und die Kugel schoß aus dem schallgedämpften Lauf. Doch sie traf nicht ihr Ziel. Ein harter Stoß warf William zu Boden, dann schlug die Kugel ein. Nicht in sein Herz, wie es sein Bruder geplant hatte, sondern in das Schlüsselbein des Vampirs, der so plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht war wie ein Geist.
„Wer auch immer du bist, das war ein Fehler", knurrte John. „Einen Zeugen für den Mord an meinem Bruder kann ich mir nicht leisten."
Er zielte auf die Brust des Vampirs. Alle Kugeln des Magazins feuerte er nacheinander ab, keine einzige verfehlte ihr Ziel, aber natürlich fiel der Untote nicht um.
„Gut gezielt, du bist ein Meisterschütze", kommentierte er die Leistung. „Alle ins Herz. Dumm nur, daß meines nicht mehr schlägt."
William richtete sich langsam auf, als sein Beschützer mit einem gewaltigen, raubtierhaften Sprung auf John zuschoß. Der wollte ausweichen, aber so schnell konnte er nicht reagieren. Mit der linken Hand packte der Vampir den Menschen und hob ihn mühelos vom Boden hoch. John zappelte, versuchte, die Hand wegzuziehen, aber so fest sich seine Finger auch in das eiskalte Fleisch bohrten, der Griff ließ nicht nach. Er begann zu röcheln. Viel zu frische Erinnerungen an den zweiten Leibwächter stiegen in William auf. Er griff nach dem anderen Arm des Vampirs.
„Bitte, laß ihn gehen", flehte er.
„Bist du verrückt?" Die kalten, blauen Augen richteten sich auf William. „Er hat gerade versucht, dich umzubringen. Willst du warten, bis er es zu einer günstigeren Zeit wieder versucht?"
„Bring ihn nicht um, bitte! Es ist egal, was er gerade versucht hat, er ist immer noch mein kleiner Bruder."
„Du paßt wirklich nicht in deine Familie. Was bietest du mir für sein Leben?"
William schloß die Augen. Er konnte den anderen nicht ansehen, während er weitersprach: „Ich komme mit dir zurück. Du bekommst mein Leben für seins."
„Also gut. Dein Leben gehört mir zwar schon, aber wenn du mich freiwillig begleitest, lasse ich ihm seines." Die Hand öffnete sich und John stürzte zu Boden. Keuchend und rasselnd rang er nach Luft. Der Vampir beugte sich über ihn. „Komm ihm noch ein einzige Mal zu nahe", raunte er Williams Bruder ins Ohr, „und ich schwöre dir, du wirst dir wünschen, ich hätte dich erwürgt."
Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ Gabriel den Hinterhof. William mußte rennen, um ihn einholen zu können. Fast eine Stunde gingen sie schweigend nebeneinander her.
„Hast du mich verfolgt?" fragte William dann.
„Ich habe mich nur beim Haus deiner Familie umgesehen und sah, wie er dir folgte. Dann bin ich ihm nachgegangen." Der Vampir warf seinem Sklaven einen ärgerlichen Blick zu. „Du hättest nicht darauf bestehen sollen, daß ich ihn am Leben lasse. Er ist ehrgeizig und machtgierig. So lange es so aussieht, als könntest du seine Pläne gefährden, wird er seine Pistole gut aufbewahren. Was ist, wenn er das nächste Mal am Tag kommt?"
„Was für ein Leben habe ich denn noch? Mein Körper gehört dir und mein Geist dreht langsam durch. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er mich erschossen hätte."
„Denkst du das wirklich? Im Moment bist du vielleicht noch ein bißchen verwirrt, aber das legt sich. Und dein Körper gehört mir nicht, wir sind nur miteinander verbunden."
„Aber was bedeutet das?" William spürte, wie sein Herz wieder zu rasen begann. „Was?!"
Gabriel schwieg. Er strich eine Strähne seiner goldenen Mähne zurück, die ihm in die Augen gefallen war. Noch nie hatte William einen Mann mit so langen, lockigen Haaren gesehen – und auch nicht viele Frauen.
„Was weißt du über Metaphysik?" fragte der Vampir nach ein paar Minuten.
„Daß es in den Augen der meisten Menschen purer Unsinn ist."
„Wirklich? So wie Vampire?"
Gegen seinen Willen mußte der junge Mann eingestehen, daß Gabriel da einen schwachen Punkt traf. Wenn es Vampire gab, warum dann nicht auch Magie? Dann konnten auch die Theorien der Metaphysiker stimmen.
„Das ist trotzdem keine Antwort."
„Schön. Laß uns nach Hause fahren. Manche Themen erörtert man besser nicht auf der Straße."
Im ersten Moment wollte William antworten, daß es kein gemeinsames Zuhause gab, daß er den Vampir wohl auch kaum seiner Familie vorstellen konnte, dann erinnerte er sich an sein Versprechen.
„Einverstanden. Fahren wir."
Der Sportwagen nahm die vielen Kurven der Küstenstraße mühelos. William war ein bißchen fasziniert von der routinierten Fahrweise Gabriels. Hin und wieder sahen sie den Schatten einer einsamen Villa, die sich in einem riesigen Park versteckte. Nur wirklich reiche Leute konnten sich ein Grundstück an der Küstenstraße leisten. Einer von ihnen war der Vampir.
„Mein Onkel hat ein Haus hier draußen", fiel dem jungen Mann nach einer Weile ein.
„Dein Onkel?"
„Der Bruder meines Vaters." William dachte nach. „Ich hatte immer Angst vor ihm, schon als kleines Kind, bevor ich wußte, was meine Familie macht."
„Dein Onkel ist wohl kein netter Mann?"
„Wenn er nicht in der Nähe ist, sagt mein Vater manchmal, daß ein Nest voller schlechtgelaunter Klapperschlangen netter ist als Onkel Richard. Aber sogar mein Vater hat zu viel Angst vor ihm, um ihm das offen ins Gesicht zu sagen."
„Wie kommt es dann, daß dein Onkel nicht das Familienoberhaupt ist?"
„Vater ist der ältere Sohn. In dieser Hinsicht ist meine Familie sehr traditionell."
„Wenigstens ein paar Gesetze braucht man auch als Verbrecher." Gabriel lächelte amüsiert. „So wie wir Vampire uns auch an unsere eigenen Gesetze halten."
„Mord wird da wohl nicht bestraft?" Diesen Kommentar konnte sich William nicht verkneifen.
„Mord an einem anderen Vampir schon. Für einige von uns sind Menschen nichts weiter als Beute."
„Für dich auch?"
Der Vampir schwieg einen Moment. Dann antwortete er: „Früher … ja, früher war das so. Aber je älter man wird, je mehr man sieht, umso mehr verändert man sich. Gleich nach meiner Zeugung war ich so blutrünstig, daß mich mein Schöpfer kaum bremsen konnte. Es war, als hätte man alle meine Charakterzüge ins Gegenteil verkehrt. Ich wollte nur noch töten, Beute reißen, Schrecken verbreiten. Meinem Vater hätte ich so wahrscheinlich gefallen. Erst als ich im Blutrausch beinahe meinen Bruder getötet hätte, begann ich, die Warnungen ernst zu nehmen. Ich ließ mir beibringen, wie ich die Blutgier bezwingen konnte. Ich fing an, nur noch wenig Blut zu trinken und meine Spuren danach zu verwischen. Das ist leicht, die Auswirkungen des Bisses machen es zu einem Kinderspiel. Lieber griff ich mir zwei oder drei Opfer in einer Nacht, als eines bis zum Tod auszusaugen. Heute töte ich nicht mehr gern."
„Und trotzdem hast du die Leibwächter getötet. Und fast meinen Bruder umgebracht."
„Der Zweck heiligt die Mittel. Dieses Sprichwort lernst du schätzen, wenn du ein Vampir bist."
„Ist das nicht ein bißchen sehr einfach?"
Plötzlich drehte Gabriel den Kopf und sah William direkt in die Augen. „Warum töten Menschen Tiere? Des Essens wegen. Vampire leben nur von Blut. Wir können keine Nahrung mehr verarbeiten, Blut ist für uns alles. Es ist Nahrung und Droge in einem. Doch anders als die Junkies können wir lernen, unsere Sucht zu zügeln."
William schwieg. Was hätte er dazu schon sagen können? Der Wagen erreichte die Tore von Gabriels Villa.
Es war schon fast halb vier, als sie im Haus standen.
„Unsere Unterhaltung werden wir wohl verschieben müssen. Bald geht die Sonne auf, dann muß ich schlafen." Gabriel winkte William, ihm zu folgen. „Ich zeige dir ein freies Schlafzimmer."
William blieb allein in einem luxuriös ausgestatteten Zimmer zurück und fragte sich, wie der Vampir tagsüber ruhte. Schlief er in einem Sarg? Vielleicht auf der blanken Erde? Es würde ein Raum ohne Sonnenlicht sein, so viel war klar.
Schließlich vertrieb William die morbiden Gedanken und legte sich hin. Nach ein paar Stunden Schlaf fühlte er sich besser. Er streifte durchs Haus und trieb in einem anderen Schlafzimmer ein T-Shirt und eine abgeschnittene Jeans auf. Erleichtert zog er sich um, in den förmlichen Kleidern, die er seit seiner Kindheit getragen hatte, hatte er sich nie wirklich wohl gefühlt. Die Mittagssonne glänzte verführerisch und William ging nach draußen, um sich den großen Park anzusehen, der wie eine natürliche Landschaft wirkte. Englische Gärten brachten ihn immer zum Träumen und dieser war ein wahres Meisterwerk.
William vergaß die Zeit völlig. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und er entfernte sich immer weiter vom Haus. Unvermittelt stand er vor der Gartenmauer. Sie war nicht sehr hoch, es wäre ein Leichtes gewesen, hinüberzusteigen. Das Haus selbst war gut gesichert, das hatte William in der Nacht zuvor gesehen. Darum hatte er auch die Terrassentür offengelassen. Für eine flüchtige Sekunde dachte er daran, einfach davonzulaufen, aber er zweifelte nicht länger daran, daß der Vampir ihn überall finden würde. Gerade als er sich umgedreht hatte, um zum Haus zurückzugehen, hörte er hinter sich ein leises Geräusch. Er wollte den Kopf drehen, als er einen Stoß zwischen die Schulterblätter bekam. Er stürzte auf die Knie, im nächsten Moment hatte er einen Fuß im Nacken und wurde brutal auf den Boden gedrückt. Handschellen klickten. William dachte an Gegenwehr, aber es war längst zu spät. Behandschuhte Pranken packten ihn, hoben ihn hoch und über die Mauer. Er sah für einen kurzen Moment mehrere massige Schlägertypen in schlechtsitzenden Anzügen, bevor er in den Laderaum eines Vans geworfen wurde.
Es sah schlecht aus. William kannte nur eine Person, die sich so eine Schlägertruppe hielt: seinen Onkel Richard. Und selbst der hätte den Befehl zur Höflichkeit erteilt, wenn es darum ging, das zukünftige Oberhaupt der Familie Lloyd zurückzubringen. Daß William gefesselt in einem Van lag, bedeutete demnach, daß sein Vater von dieser Aktion keine Ahnung hatte. Er erwog, daß John beteiligt sein könnte, verwarf es aber. Auch wenn er die Machtgier seines Bruders unterschätzt hatte, John würde sich im ganzen Leben nicht mit Onkel Richard zusammentun. Dazu hatte sein kleiner Bruder viel zu viel Angst um seine eigene Sicherheit, denn seinem Onkel konnte man nicht trauen.
Der Wagen kam zum Stillstand. Auch das war kein gutes Zeichen. In der kurzen Zeit, die seit der Gefangennahme vergangen war, konnte man ihn nicht in die Stadt zurückgeschafft haben. Das hieß, daß er sich in der Villa seines Onkels befand. 'Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet' hatte sein Vater einmal im Scherz über das Haus vor den Toren der Stadt gesagt. Langsam ahnte William, daß es nicht nur ein Scherz gewesen sein konnte.
Die Wagentüren wurde aufgerissen, zwei Männer zerrten William von der Ladefläche. Sie führten ihn durch eine Verbindungstür von der Garage ins Haus. Offensichtlich wollte Onkel Richard nicht das Risiko eingehen, daß jemand von draußen beobachten konnte, wo William war. Die Kellertreppe wurde er halb hinuntergestoßen und halb hinuntergeschleift. Mehrmals verpaßte er eine Stufe und wäre gestürzt, hätten ihn nicht die massigen Hände abgefangen, die seine Arme umklammert hielten. Es sah wirklich sehr düster aus.
Der Keller war kalt und schlecht beleuchtet. Eine nackte zwanzig-Watt-Birne beleuchtete den Gang, irgendwo tropfte ein undichtes Rohr. Williams Sinne nahmen alle Details überdeutlich auf. Er hatte Angst und hätte sich auch nicht gescheut, das zuzugeben, wenn man ihn gefragt hätte. Eine massive Stahltür erschien in seinem Blickfeld. Einer seiner Begleiter öffnete. William sah sich von einem Moment zum nächsten seinem Onkel gegenüber. Noch bevor er etwas sagen konnte, bekam er von hinten einen weiteren Schlag zwischen die Schulterblätter und wurde dem kaltherzigen Mann vor die Füße geworfen. Er landete hart auf dem Betonboden.
„Wie nett, daß du mich besuchen kommst, Neffe", verhöhnt Richard Lloyd den jungen Mann. „Hattest du eine angenehme Reise?"
Lieber würde ich den Kampf mit dem Vampir noch zwanzig Mal durchstehen, als hier zu sein, schoß es William durch den Kopf. Er will mich wenigstens nicht umbringen.
„Antworte!" herrschte sein Onkel ihn an. Ein Tritt in die Rippen unterstrich den Befehl.
„Was erwartest du?" stieß William hervor. „Daß ich dieses Spiel mitspiele? Gestern hat John versucht, mich umzulegen. Vor drei Tagen wurden meine Leibwächter vor meinen Augen regelrecht abgeschlachtet. Soll ich jetzt vor dir Angst haben?"
So ganz die Wahrheit war das nicht, William hatte entsetzliche Angst. Aber die letzten Tage hatten ihn definitiv verändert. Er hatte dem Tod in die Augen gesehen. Sein Leben hatte einen neuen Fokus.
Sein Onkel klatschte in die Hände, nur einmal, ganz kurz. Brutal wurde William auf die Beine gerissen. Er sah in die Augen seines Onkels, kalt und pechschwarz. Selbst der Vampir hatte wärmere Augen, dachte er.
„Ich will dich nicht töten, William." Falsche Freundlichkeit troff wie Honig von diesem Satz. „Ich möchte dir nur einen Vorschlag machen."
„Was für einen?"
„Wenn dein Vater einen Unfall haben sollte—", setzte Richard Lloyd an, aber William fuhr ihm ins Wort:
„Du meinst, wenn mein Vater deinen Plänen zum Opfer fällt, was du vorher auf die Minute genau wissen wirst."
„Unterbrich mich nie wieder, Junge." Ohne Vorwarnung holte Williams Onkel aus und schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann ließ er die Hand zurückzucken und verpaßte William einen zweiten Schlag mit dem Handrücken. Die Unterlippe des jungen Mannes platzte auf und er hatte plötzlich den Geschmack von Blut im Mund.
Hoffentlich findet Gabriel mich, bevor mein Onkel die Geduld verliert, dachte William verzweifelt. Es war ihm in diesem Moment nicht bewußt, aber zum ersten Mal sah er nicht mehr den Vampir, sondern nur noch die Person, die sich um ihn sorgte und ihn in Sicherheit wissen wollte.
Genau zu dem Zeitpunkt, als William die beiden Schläge bekam, ging die Sonne unter und Gabriel erwachte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn und er setzte sich unwillkürlich auf. Dann spürte er die zusammengestauchten Projektile, die überall um ihn herum auf dem Laken lagen. Sein Körper hatte den Inhalt des Pistolenmagazins, das Williams Bruder auf ihn abgefeuert hatte, während des Tages abgestoßen. Wenn er aber nicht verletzt war, dann gab es nur eine Möglichkeit: William.
Gabriel sprang vom Bett, rannte durch den schmalen Gang in sein Schrankzimmer, riß im Vorbeigehen Kleider von den Bügeln und zog sich in fiebriger Eile an. Ohne ein einziges Mal anzuhalten, rannte er dann die Treppe hinunter, aus dem Haus und quer über das Grundstück. Seine Vampirsinne verrieten ihm genau, wo sich sein Sklave befand.
William war in Gefahr, in großer Gefahr sogar. Und er war nicht weit von Gabriels Standort entfernt. Wie ein Schatten glitt der Vampir über das Gras. Er überwand die Gartenmauer mit einem geschmeidigen Sprung und tauchte in die Finsternis des privaten Waldstückes, das in der Luftlinie zwischen ihm und Williams Aufenthaltsort lag. Wer immer dabei war, William Schmerzen zuzufügen, er würde es bereuen.
Nach der schmerzhaften Warnung hatte William den Mund gehalten, während sein Onkel den ganzen Plan ausbreitete. Er sah vor, daß William nach dem erwähnten Unfall die Position als Familienoberhaupt einnehmen würde, während die Fäden in Wirklichkeit bei seinem Onkel zusammenliefen. Richard Lloyd machte sich nichts vor: Es würde zu viele Familienangehörige das Leben kosten, sich selbst zum Oberhaupt zu machen. John war zu störrisch und zu stark, William war die bessere Wahl. Allerdings bedeutete die Tatsache, daß William schweigend zugehört hatte, nicht, daß er auch damit einverstanden war. Daraufhin hatte sein Onkel entschieden, daß er wohl zu etwas besseren Argumenten würde greifen müssen. Die Argumente bestanden aus einer Peitsche und einem Flaschenzug.
Mittlerweile hatte William das Gefühl, daß sein Rücken in Flammen stand. Die Schläge brannten wie Feuer und er spürte, wie schmale Rinnsale aus Blut über die mißhandelte Haut flossen. Aber seltsamerweise konnte er nicht aufgeben. Er war sich sicher, noch vor einer Woche hätte er längst zugestimmt, um weiterem Schmerz zu entgehen. Doch nun war es anders. Etwas in ihm war anders. So wie er seine Furcht hatte verbergen können, so wie er seinen Mut gefunden hatte, so fand er nun auch den festen Willen, nicht nachzugeben.
„Ich bin überrascht", hörte er hinter seinem Rücken die Stimme seines Onkels. „Ich hätte geschworen, daß ich schon vor zehn Minuten deinen Willen hätte brechen können. Du bist zäher, als ich erwartet hatte. Aber das ist auch eine Herausforderung. Ich habe noch keinen Willen gefunden, den ich nicht brechen konnte. Auch du wirst da keine Ausnahme machen."
Plötzlich erinnerte William sich an etwas, das er vor nicht allzu langer Zeit gehört hatte: Dich gegen deinen Willen hier festzuhalten, würde ihn langsam brechen. Dann wäre deine Seele nur noch ein zersprungener Spiegel. Er würde nicht zulassen, daß seine Seele zerstört wurde.
Eine Hand riß seinen Kopf an den Haaren zurück und ihn damit aus seinen Gedanken. „Ich habe dir immer gesagt, du sollst dir die Haare schneiden lassen", flüsterte Richard ihm bösartig ins Ohr. Dann fuhr er lauter fort: „Ich habe den Eindruck, diese Methode verfehlt bei dir ihre Wirkung. Weißt du, was man macht, wenn eine Methode versagt?"
„Man wählt eine andere Methode?" gab William zurück.
„Das kann man tun. Aber zuerst kann man auch die Methode in Gebrauch verschärfen. Zieh ihn hoch, Biggs."
Der letzte Satz galt nicht William, sondern einem breit gebauten Mann, der an der Winde des Flaschenzugs stand. Die Kette klirrte und langsam hob sich der Haken, an dem die Verbindungsglieder der Handschellen hingen. Instinktiv verschränkte William die Finger, um nicht das ganze Gewicht auf die dünnen Armbänder zu verlagern, die sich schon jetzt in seine Haut einschnitten. Er streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, aber schließlich konnte er beim besten Willen nicht mehr den Boden berühren. Er hing völlig frei in der Luft.
Dann traf der nächste Schlag. War es zuvor schon eine Qual gewesen, es wurde schlimmer. Der Hieb versetzte seinen Körper in eine Pendelbewegung und Schmerzen durchzuckten seinen Arm von den Fingerspitzen bis hinunter zu den Schultern. Aber William biß sich auf die Zunge und blieb stumm.
„Dein Durchhaltevermögen ist wirklich bewundernswert", spöttelte sein Onkel. „So langsam glaube ich, daß du doch das Blut der Familie Lloyd in dir hast. Aber glaub mir, irgendwann gibt jeder auf."
Gabriel! schrie William in Gedanken hinaus. Hilf mir!
Williams lautloser Aufschrei blieb nicht ungehört. Gabriel hatte das große Anwesen erreicht und beobachtete die Männer, die dort auf Wachposten waren. Es war dunkel, aber mit den Augen eines Vampirs kann man selbst in pechschwarzer Nacht in den Tiefen des Höllenschlundes etwas sehen. Den eiskalten, tiefblauen Augen entging nichts. Im Licht des abnehmenden Mondes schimmerte das lange Haar weiß, wie Schnee – oder wie ein Leichentuch.
Das Gefühl unbeschreiblichen Hasses durchpulste Gabriels Körper. Zum letzen Mal hatte er so gefühlt, als er erkennen mußte, daß er um ein Haar seinen eigenen Bruder getötet hatte. Damals hatte er sich gehaßt und fast den Weg hinaus in die Sonne gewählt. Hätte sein Schöpfer ihn nicht mit Gewalt davon abgehalten, er wäre hinaus gegangen und hätte sich den sengenden, alles vernichtenden Strahlen des Tagessterns ausgesetzt. Diesmal haßte er eine andere Person und er war bereit, sich diesem Haßgefühl hinzugeben. Für ihn hatte die Person auch schon ein Gesicht. Williams Onkel hatte ein Haus an der Küstenstraße. Gabriel zweifelte nicht daran, daß es dieses Haus war.
Lautlos pirschte er sich an die beiden Wachmänner am Tor heran. Sie sahen in Richtung Grundstück, als er hinter ihnen auftauchte. Dem ersten riß er die Luftröhre aus der Kehle, noch bevor der einen Ton herausbringen konnte. Den zweiten packte er und schlug seine Fänge in dessen Körper. Normalerweise setzt die Extase nach spätestens fünf Sekunden ein, aber wenn ein Vampir will, kann er sie unterdrücken. Dann erlebt das Opfer den Biß bewußt – eine extrem schmerzhafte Erfahrung. Gabriel unterdrückte die Extase und ließ sein Opfer lauthals schreien, während er das Blut in sich aufnahm. Erst als das Herz aussetzte und von überall auf dem Anwesen andere Männer zusammenrannten, ließ er die Leiche fallen und richtete sich auf.
Im Flutlicht der Zufahrt sahen die Männer den Grund für die Aufregung: einen jungen Mann mit schlankem Körper, langen, blonden Locken und Blut im Gesicht, an den Händen und auf dem ansonsten makellos weißen Hemd. Zu seinen Füßen lagen zwei ihrer Kollegen, beide offensichtlich tot. Sie reagierten, wie man es ihnen beigebracht hatte. Blei flog durch die Luft – und richtete doch nichts aus. Gabriel stürzte sich auf sie und begann eine wahre Orgie des Tötens…
Ein Mann stürzte in den Keller. William erkannte ihn an der Stimme, als er zu reden anfing. Es war Rigby, die rechte Hand seines Onkels. Für William hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Frettchen: kleine, verschlagene Knopfaugen und eine spitze Nase.
„Herr", brach es aus ihm hervor, „wir haben einen Eindringling."
„Na und? Wofür sind die Wachen draußen?"
„Die sind alle tot, Herr."
„Tot?" wiederholte Richard Lloyd ungläubig.
„Etwas ist da draußen, aber wir bekommen es nicht vor die Kameras und selbst die Bewegungsmelder reagieren nur sporadisch. Am Tor und im näheren Umkreis liegen die Wachen, alle tot. Doyle war draußen. Bevor es ihn erwischt hat, hat er noch gefunkt, daß es so aussieht, als wären sie alle von einem Raubtier abgeschlachtet worden." Panik klang überdeutlich in Rigbys Stimme mit.
„Geh wieder nach oben, aber laß mir das Funkgerät da. Schick die restlichen Jungs raus, mit Maschinenpistolen. Biggs, du gehst mit, ich komme allein klar. Und Rigby: Informier mich über alles!"
Trotz seiner Schmerzen stieg ein Lachen Williams Kehle hinauf. Er machte sich Luft.
„Was lachst du so blöd?" fauchte sein Onkel ihn an und hob die Peitsche.
„Du bist so gut wie tot, Onkel Richard", antwortete William. „Keine Maschinenpistole wird dieses Raubtier aufhalten. Es wird kommen, es wird dich finden und dann wird es dich töten."
„Du lügst mich an. Das ist nur ein Bluff, damit ich dich freilasse."
„Ob du mich freiläßt oder nicht, spielt keine Rolle. Er wird dich töten."
„Wer wird mich töten? Ein Es oder ein Er?"
„Derjenige, der auch meine Leibwächter getötet hat, derjenige, der fast John getötet hätte, wenn ich ihn nicht gebeten hätte, meinen Bruder zu verschonen."
Die Kette klirrte wieder, aber diesmal senkte sich der Flaschenzug und William konnte wieder stehen und seine Arme wenigstens etwas entlasten. Sein Onkel trat in sein Blickfeld und er konnte eine beginnende Panik in den kalten Augen aufkeimen sehen.
„Er hat John verschont, warum dann nicht mich?"
„John wollte mich töten, aber er hat mich nicht verletzt. Ich habe um sein Leben gebettelt. Warum sollte ich für dich bitten?"
Sein Onkel starrte auf das Funkgerät. „Rigby, was ist da draußen los?"
„Eine Katastrophe!" klang die panikerfüllte Antwort aus dem kleinen Lautsprecher. „Unsere Männer sterben wie die Fliegen und ich habe immer noch kein Bild … Jetzt hat der Bewegungsmelder in der Eingangshalle angeschlagen … Nein, das kann nicht … Gna—" Von einem Moment zum nächsten brach Rigbys Stimme ab. Ein unmenschlicher Schmerzensschrei drang durch das Funkgerät, dann gab es nur noch weißes Rauschen.
„Rigby!" Richard Lloyd hatte die Panik gepackt. „Mich kriegt das Monster nicht, ich habe ein gutes Schutzschild", zischte er.
Brutal drehte er William zur Tür und im nächsten Moment spürte der junge Mann die Klinge eines Messers an seiner Kehle. Es war totenstill im Haus, dann gab es ein einziges Geräusch: Es klang wie ein schwerer Gegenstand, den man eine Treppe hinunterzieht und der von jeder Stufe abprallt. Ein paar unerträgliche Minuten war es wieder still, dann öffnete sich langsam die Tür. Aber draußen war niemand. William spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn rann. Sein Onkel mußte wahnsinnig geworden sein. Was, wenn Gabriel einmal zu langsam war? Wie aus dem Nichts flog plötzlich etwas durch die Luft. Mit einem dumpfen Geräusch schlug es auf dem Boden auf und schlidderte bis vor Williams Füße. Er wollte nicht hinsehen, aber er konnte die Augen nicht abwenden. Vor ihm lag Rigby, den Kopf um hundertachtzig Grad verdreht, die Arme, die Beine und das Rückgrat so oft gebrochen, daß der leblose Körper wie eine Lumpenpuppe dalag, die ein Kind in die Ecke geworfen hatte. Rigbys Brustkorb war zerschmettert, sein Unterleib aufgerissen. William wurde übel, nicht aus Mitleid, nicht einmal aus Ekel, nur aus Abscheu über den Anblick.
„Zeig dich!" forderte sein Onkel hinter ihm mit einem heiseren Tonfall. „Zeig dich, du Monster! Du willst den Jungen? Dann komm und hol ihn dir! Wenn du kannst."
„Willst du dich mit mir messen, Sterblicher?" erklang Gabriels Stimme.
Dann trat er in den Türrahmen. William sah ihn an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Das goldene Engelshaar umwogte ein Gesicht, dessen blaue Augen so voller Haß waren, daß ihre Kälte gereicht hätte, die Feuer der Hölle zu löschen. Auf dem weißen Hemd bildeten große Blutflecken einen makaberen Rohrschach-Test. Er atmete nicht einmal schwer, er atmete ja überhaupt nicht.
Die Klinge wurde noch dichter an Williams Kehle gepreßt. „Wenn du einen Schritt näher kommst, bringe ich ihn um." Richard Lloyds Stimme überschlug sich wie die eines Jungen in der Pubertät, die dieser Mann schon längst hinter sich hatte.
„Wenn auch nur ein weiterer Tropfen seines Blutes fließt, wirst du bereuen, geboren worden zu sein. Die Qualen der Hölle werden eine Erholung für dich sein, das schwöre ich dir."
„Was bist du, verdammt?"
„Dein Engel des Todes."
Es war, als hätte sich Gabriel gar nicht bewegt. In einem Moment stand er in der Tür, im nächsten stand er genau vor William, ergriff Richards rechten Unterarm und bog ihn zur Seite, bis die Knochen mit einem lauten Knacken brachen. Das Messer fiel klirrend zu Boden. Williams Onkel wimmerte und taumelte zurück. Gabriel folgte ihm langsam. Wie unter einem fremden Befehl drehte William sich um, bis er sehen konnte, was weiter geschah.
Gabriels linke Hand schloß sich um die Kehle von Richard Lloyd. Er rammte ihn gegen die Wand und hob ihn dann langsam hoch, bis seine Beine in der Luft baumelten. Dann hob er die rechte Hand, streckte alle Finger aus und zielte damit auf den Brustkorb. Wie eine Harpune schoß die Hand vor, durchschlug die Rippen und packte etwas in der Brust. Williams Onkel stieß einen qualvollen Schrei aus. Er klang nicht mehr menschlich. Zitternd schloß der junge Mann die Augen, bis der Schrei abbrach. Dann sah er wieder hin, er konnte nicht anders. Gabriel zog den Arm zurück, in der Hand hielt er das Herz von Richard Lloyd. Es schlug noch unregelmäßig. Langsam ballte er die Hand zur Faust und zerquetschte das lebenswichtige Organ, bis Blut und Fleisch zwischen seinen Fingern hervorquollen. Dann erst ließ er die Leiche los und öffnete die rechte Hand, um die Überreste des Herzens auf den Boden fallen zu lassen. Er hob die blutige Hand zum Mund und begann, sie abzulecken. Erst als an ihr kein Tropfen Blut mehr zu sehen war, richtete er den Blick auf William.
„Diesmal hätte auch dein Flehen ihn nicht geretten", sagte er mit ruhiger Stimme.
„Ich hätte auch nicht für ihn gefleht", erwiderte William. „Ich habe nur gehofft, daß du kommen würdest."
Ein zartes Lächeln umspielte die bleichen Lippen des Vampirs. Er näherte sich William und legte die kalten Hände gegen die Wangen des jungen Mannes. Der sah ihn an und lächelte zurück, trotz der aufgeplatzten Lippe.
„Und du bist gekommen", wisperte er leise.
„Das ist mein Teil des Paktes", antwortete Gabriel. „Ich werde dich niemals im Stich lassen, ich werde immer für dich da sein. Du bist mein, aber ich bin auch auf ewig dein."
Zögernd näherten sich ihre Gesichter einander an. Ihre Lippen berührten sich flüchtig. Gabriels Hände glitten an Williams Armen empor, schlossen sich um die Handschellen und zerbrachen die stählernen Ringe. Langsam sanken Williams Arme herunter. Die kalte Zunge des Vampirs berührte die aufgeplatzte Stelle an der Unterlippe, leckte über das Blut, im nächsten Moment war die Wunde verschwunden.
„Was tust du?" flüsterte der junge Mann.
„Ich schließe die Wunden, so wie ich meine Bisse schließen kann." Gabriel fing eine Hand ab und hob sie vor sein Gesicht. Die Fesseln hatten sich tief eingegraben und blutige Spuren hinterlassen. „Sieh zu." Langsam bewegte sich die Zunge über die Streifen und sie verschwanden.
„So einfach geht das?"
„Nur bei Verletzungen, die mit Blut zu tun haben. Hämatome und offene Wunden lassen sich so heilen. Kannst du gehen? Ich glaube, der Kerl da hat die Polizei gerufen. Wir müssen von hier weg, ich will keine Antworten geben müssen."
„Es wird schon gehen."
Gemeinsam brachten sie die Treppe hinter sich und verließen gerade noch rechtzeitig das Anwesen, bevor die Polizei eintraf. Gabriel führte William auf Schleichwegen zurück zu seiner Villa, mied die Küstenstraße und kürzte den Weg ab.
William legte sich bäuchlings auf sein Bett und schloß die Augen. Er war sich seiner Gefühle weniger bewußt als jemals zuvor, aber eines war ihm jetzt absolut klar: Er konnte das Blutsband nicht brechen und wollte das auch gar nicht mehr. Über ihm bewegte sich Gabriel, begann damit, die Peitschenstriemen, die letzten Endes auch durch aufgeplatzte Adern unter der Haut entstanden waren, verschwinden zu lassen. Langsam ließ der körperliche Schmerz nach, dafür setzte der seelische Schock ein.
Irgendwie konnte William es immer noch nicht fassen, daß sein eigener Onkel dazu fähig gewesen war, ihn bis aufs Blut zu quälen. Er schloß die Augen, als die ersten Tränen aufstiegen. Sie quollen unter den Lidern vor und liefen über seine Wangen. Er weinte lautlos und wußte nicht einmal, warum.
Gabriels Finger glitten über Williams Wangen, er spürte die Feuchtigkeit.
„Schmerzt es noch so sehr?" fragte er sanft.
„Es liegt nicht an meinem Rücken, er tut kaum noch weh." Die Stimme des jungen Mannes war halb von Tränen erstickt. „Es ist … ich weiß nicht, was es ist." Er kniff die Augen noch fester zusammen. „Ich will nicht, daß du mich so siehst."
Wie ein Vorhang fiel das blonde Haar über seinen Körper, als Gabriel sich zu ihm herabbeugte.
„Dummkopf", wisperte der Vampir ihm ins Ohr, „genau für deine Sanftheit liebe ich dich. Hätte diese Nacht keine Wunden in deiner Seele hinterlassen, es wäre auch ein Wunder gewesen."
„Dann halt mich fest."
Kalte, unendlich starke Arme schlangen sich um ihn. Aber so kalt diese Umarmung körperlich auch sein mochte, für William war sie voller Wärme. Er ließ dem Schmerz freien Lauf und weinte, bis die Tränen versiegten. Das salzige Wasser spülte nicht die Erinnerungen weg, nichts konnte die Stunden in der Gewalt seines Onkels auslöschen, aber es schliff die spitzen Kanten ein wenig ab, machte es leichter, mit dem Erlebten zurecht zu kommen. Und Gabriel sagte kein Wort, er war einfach nur da.
Die Nacht verstrich, während Gabriel den Rest der Verletzungen zum Verschwinden brachte. William lag da und dachte an nichts, nicht an den Tag, den er hinter sich hatte, nicht an seine Familie, nicht an sein bisheriges Leben. Er ließ sich einfach nur von der Situation tragen, von den zarten Berührungen, die seine Wunden heilten, von der Dunkelheit des Zimmers, die nur durch einen noch fast ganz vorhandenen Mond gemildert wurde, von der Stille ganz draußen am Ende der Küstenstraße, vom leisen Rauschen der Wellen, die das Kliff umspielten. Schließlich zeigten sich an seinem Körper keine Spuren der Folter mehr, die er durchgestanden hatte. Gabriel stand auf und ging langsam zur Tür, Mondlich färbte sein Haar schneeweiß. William richtete sich auf.
„Wohin gehst du? Bis Sonnenaufgang dauert es noch eine Weile."
„Ich weiß, aber ich habe viel Blut aufgebraucht, als ich die Männer deines Onkel angegriffen habe."
„Mußt du auf die Jagd gehen?"
Gabriel lächelte. „Nur in die Küche. Blutbanken sind eine tolle Erfindung."
William setzte sich auf die Bettkante. „Nimm meins."
„Was?" Ungläubig sah der Vampir ihn an.
„Mein Blut. Du kannst davon trinken, so viel du brauchst."
„Bist du dir sicher? Der Biß wird nicht ganz verschleiert, wenn das Band besteht. Du wirst ihn nicht vergessen."
„Das ist auch gut so. Ich meine es ernst, Gabriel."
Langsam kehrte der Vampir zum Bett zurück. William sah zu ihm auf und lächelte sanft. Er ließ sich zurückfallen und drehte den Kopf zur Seite. Gabriel beugte sich über ihn, stützte die Hände aufs Bett und näherte sich der entblößten Kehle. Seine Lippen berührten weiche, warme, empfindliche Haut. Die Halsschlagader pulste unter der dünnen Schicht, schickte Blut ins Gehirn hinauf und wieder zurück. Der Vampir ließ seine Fänge hervorschnellen und grub sie tief in das warme Fleisch. William stöhnte auf, seine Finger krallten sich in die Laken. Es war ein anderer Biß, auch wenn er den Unterschied nicht erkennen konnte. Die Extase setzte ein, aber unter dem Lustgefühl blieb der Schmerz des Bisses bestehen. Wenn der junge Mann sich konzentrierte, konnte er genau spüren, wo die Fänge seinen Körper verletzt hatten, wo das Blut herausgesogen wurde. Aber auch dieses Gefühl trug mit zur Extase bei. William war nicht länger so erschlafft und duldsam wie ein normales Vampiropfer. Sein Atem ging hastig und stoßweise, er stöhnte weiter. Doch als Gabriel sich von ihm löste und die Reißzähne einfuhr, sah er trotzdem ein bißchen enttäuscht auf.
„Reicht dir das? Viel kannst du nicht getrunken haben."
„Du hast heute schon viel Blut verloren, aber keine Angst, es hat mir gereicht." Gabriel lächelte. „Jeder Tropfen Blut von dir ist für mich so unendlich wertvoll."
Das war das Schönste, was William in seinem ganzen Leben gehört hatte.
Seufzend verstaute William die Einkäufe auf dem Rücksitz des Sportwagens. Nicht, daß der Rücksitz die Bezeichnung wirklich wert gewesen wäre, aber der Kofferraum war noch kleiner. Er setzte sich ans Steuer und lenkte den Wagen aus der Stadt und über die Küstenstraße. Normalerweise wäre er sofort bis zur Villa gefahren, aber dieser Tag war ein ganz besonderer Tag. William stoppte den Wagen in einer kleinen Haltebucht und stieg auf den Hügel, an dessen Fuß sie lag. Von dort aus hatte man uneingeschränkte Sicht auf das Anwesen von Richard Lloyd – beziehungsweise das ehemalige Anwesen. Seit dem Massenmord auf dem Grundstück, der vor zwei Jahren die Gemüter erhitzt und die Zeitungen geschlagene drei Monate beschäftigt hatte, stand die Villa leer. Es hatte genug Versuche gegeben, das Anwesen wieder zu verkaufen. Eigentlich hatte es auch eine erstklassige Lage, aber die vielen Leichen drückten die Chancen. William wußte genau, was dort geschehen war, aber er konnte und er wollte es niemandem sagen. Vor zwei Jahren war er im Keller dieses Hauses durch die Hölle gegangen, in der Nacht, in der dort alles Leben ausgelöscht worden war – seinetwegen. Aber William konnte um seinen Onkel und dessen Privatarmee nicht trauern.
Plötzlich sah er eine schwarze Luxuskarosse, die die selbe Haltebucht ansteuerte, in der der Sportwagen stand. Der Wagenschlag wurde geöffnet und ein junger Mann im Anzug stieg aus und den Hügel hinauf. John Lloyd stellte sich neben seinen älteren Bruder – auch wenn sie jetzt gleichalt aussahen. Mit Gabriels Hilfe hatte William einen Deal mit seiner Familie gemacht: Er trat von der Position als zukünftiges Oberhaupt zurück und aus allen Unternehmen der Familie aus. John nahm seine Position ein und die Familie ließ ihn weitestgehend in Ruhe. Dafür achtete William darauf, daß es zu keinen Grüchten um ihn und seinen neuen Auftraggeber kam. Offiziell war er Gabriels Privatsekretär und er erfüllte auch alle damit verbundenen Aufgaben. Inoffiziell sah es anders aus, aber das mußte ja keiner wissen.
Einen Moment standen sie schweigend da, dann begann John: „Die Polizei konnte nie herausfinden, wer für das Blutbad verantwortlich war." William nickte. „Willst du meine Theorie hören?" Als sich William nicht rührte, sprach John weiter: „Es war das selbe Wesen, das mich beinahe umgebracht hat. Nicht, daß ich es nicht verdient gehabt hätte. Du kannst mir nichts über ihn sagen, über deinen neuen Herrn, nicht wahr?"
„Tut mir leid, kann ich nicht."
„Das dachte ich schon. Was hat Onkel Richard getan, kannst du mir das wenigstens sagen?"
William nickte. „Er hat mich entführen lassen. Mit mir als Marionette wollte er die Familie kontrollieren, nachdem er Vater aus dem Weg geräumt hatte."
„Und du?"
„Ich habe mich geweigert."
„Was? Das hätte ich dir nicht zugetraut. Was hat er getan?"
„Mich geschlagen, versucht, meinen Willen zu brechen."
John stieß einen leisen Pfiff aus. „Er war immer so brutal. Was ist dann passiert?"
„Er kam, mein 'neuer Herr', wie du ihn nennst."
„Und er hat Onkel Richard das Herz herausgerissen."
„Ja, und ihm den Arm gebrochen. Onkel Richard hat damit gedroht, mir die Kehle durchzuschneiden."
„Ein schlechter Zug gegen ein Wesen mit solcher Kraft. Mich hat er mit Leichtigkeit hochgehoben und fast erwürgt."
„Nichts hätte ihn retten können."
John seufzte. „Du kannst mir nicht sagen, was er ist, oder?"
„Nein, die Vorgänge, die mich an ihn gebunden haben, verbieten es mir. Es könnte ihn in Gefahr bringen."
„Damals, auf dem Hinterhof, hast du mir gesagt, daß ich auch wahnsinnig werden würde, wenn ich das gleiche durchmachen würde wie du. Ich glaube jetzt, du hattest recht damit. Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist, aber ich weiß, daß es dich verändert hat."
„Sehr sogar."
„Aber die Veränderung steht dir. Du siehst gut aus, Bruderherz." John grinste breit. „Jetzt könnte man uns für Zwillinge halten."
„Ja, das könnte man."
Seufzend ging Williams Bruder wieder den Hang hinunter. Er stieg in die Limousine und ließ sich in die Stadt zurückfahren. William warf einen letzten Blick auf das Haus, das langsam zu verfallen begann. Vielleicht würde sich in ein paar Jahren jemand finden, der es kaufen wollte, vielleicht würde es auch eines Tages abgerissen werden, möglich war alles.
William sah der Straße nach, die seinen Bruder in die Stadt zurückführte. Ich wünschte, ich könnte dir alles sagen, dachte er. Aber vieles kann ich selbst nicht erklären. Du könntest nicht verstehen, was mich mit Gabriel verbindet. Es geht nicht nur um das Blutsband, das mich zu seinem Sklaven macht. Es hindert mich nur daran, ihn zu verraten, so wie es ihn immer zu mir führen kann. Unsere Beziehung geht tiefer als das. Ich brauche ihn, weil er alles das ist, was ich nie sein kann. Er ist kalt, er ist grausam, er ist ein Raubtier. Und er braucht mich genauso, weil ich alles das bin, was er nicht sein kann. Und weiß Gott, mittlerweile brauche ich sogar seine blutigen Küsse. Wer sie einmal erlebt hat, kann sich nie wieder nur mit normalem Sex begnügen, auch wenn ich hin und wieder gern mit einer Frau ins Bett gehe. Und auch wenn er mich dabei gern beobachtet und sich manchmal sogar einschaltet.
William dachte an die letzten Male, als das passiert war. Viele Menschen mögen glauben, daß der Körper eines Vampirs verfault, aber dem ist nicht so. Er bleibt eingefroren in dem Moment, in dem er starb, nichts ändert sich, nicht die Haarlänge, nicht der Körperbau, nicht einmal die Art, Anzahl und Position von Narben. Gabriel konnte ein vollendeter Verführer und Liebhaber sein, wenn er wollte. Er war weit erfahrener in diesen Dingen als es William vielleicht jemals sein würde, selbst wenn das Band sein Leben noch so sehr verlängern konnte.
Er stieg wieder in den Wagen und fuhr zur Villa. Die Sonne stand schon tief, in einer halben Stunde würde sie untergehen. Dann begann der Teil seines Lebens, der ihn von allen anderen Menschen in dieser Stadt unterschied. Tagsüber tat er all das, was man von einem Sekretär erwarten konnte: er sprach Termine ab (möglichst nach Sonnenuntergang), er kümmerte sich um den Einkauf, ums Haus und den Garten, wenn sich ein Termin nicht in die Nacht verlegen ließ, nahm er ihn an Gabriels Stelle wahr. Und er stellte sich besser an, als er selbst je für möglich gehalten hätte, vor mehr als zwei Jahren, vor der Nacht, die sein Leben verändert hatte.
William hatte sich seit damals äußerlich nicht mehr verändert, sein Haar war immer noch etwas über schulterlang, seine Augen noch so dunkelbraun und so sanft wie früher. Er hatte noch immer ein zartes, fast weibliches Gesicht. Aber jetzt war er damit glücklich, denn er wußte, daß er auch damit geliebt werden konnte. Es mochte eine dunkle, schmerzhafte Liebe sein, aber sie war da und nur darum ging es. Vor einigen Tagen hatte Gabriel ihn gefragt, ob er sich manchmal wünschte, es wäre alles nie passiert. William hatte aus ganzem Herzen mit 'Nein' geantwortet. Auch wenn er an die Nacht dachte, in der das Band geschaffen worden war, an die Angst und das Entsetzen, an den aussichtslosen Kampf, an den Tag in der Zelle, selbst dann wollte er es nicht rückgängig machen. Und wenn es Richard Lloyd und seine sadistische Ader gebraucht hatte, um ihm die Wahrheit vor Augen zu führen, dann war das auch in Ordnung. Die Welt war mit Sicherheit ein besserer Ort, seitdem sein Onkel in der Hölle schmorte.
Während die Sonne unterging, stieg William in den ersten Stock hinauf. Er betrat das offizielle Schlafzimmer seines Herrn und setzte sich aufs Bett. Es war noch nie zum Schlafen benutzt worden, aber das hieß ja nicht, daß es nicht zu anderen Dingen gebraucht worden war. Das Abendrot fiel durch die großen Scheiben, langsam verblaßte es, aus Tag wurde Nacht. Lautlos trat Gabriel aus dem Schrankzimmer, in dem sich der Zugang zu seinem eigentlichen Schlafplatz befand. Damals hatte William sich gefragt, wie der Vampir tagsüber schlief, ob in einem Sarg oder sonstwo. In der fensterlosen Kammer stand ein Bett und auch wenn Gabriel von Sonnenuntergang nicht zu wecken war, schlief er doch wie ein Mensch, er lag nicht nur starr da und wartete auf die nächste Nacht.
Es war Vollmond und silbernes Licht erhellte den Raum. Es ließ die weiße Haut des Vampirs noch bleicher erscheinen. Gabriel schlief immer nackt, so fühlte er sich eben am wohlsten. William lächelte ihn an.
„Guten Abend", sagte er dann nur und stand auf.
Gabriel antwortete nicht, er senkte den Kopf leicht und seine kalten, tiefblauen Augen fixierten William. Ein hinterlistiges Lächeln zog seine Mundwinkel leicht nach oben, dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn, packte Williams Handgelenke und drängte ihn zum Bett zurück. Er stieß den jungen Mann auf die weißen Laken und warf sich auf ihn. Mühelos hielt er sein Opfer fest und beugte sich vor, bis seine bleichen Lippen direkt neben Williams Ohr waren.
„Denkst du, ich hätte vergessen, was für ein Tag heute ist?" flüsterte er.
William lächelte. „Nein, natürlich nicht."
Die starken Hände hielten ihn fest, selbst wenn er gewollt hätte, er hätte nicht entkommen können. Aber das wollte er auch nicht. Gabriels blondes Haar fiel über seine Schultern nach unten, wie ein Vorhang senkte es sich über Williams Körper. Dem Vampir war eine besondere Schönheit eigen, das hatte William im Laufe der Zeit erkannt. Er war nicht sanft, er war nicht nett, im Licht des Vollmondes und ohne Kleider sah er nicht einmal menschlich aus, aber er bewegte sich so unvergleichlich geschmeidig, fast, aber nicht ganz wie eine große Raubkatze. Die kalten Augen leuchteten von innen heraus, sie erwärmten sich nie, verrieten selten die Gefühle hinter ihnen.
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt", zitierte Gabriel einen Satz, den er William schon einmal gesagt hatte, vor zwei Jahren, nachdem das Band geschaffen worden war.
Dann öffnete er den Mund weit und William sah seine Fänge, die sich langsam aus dem Zahnfleisch schoben. Sie funkelten im Mondlicht, als sie näher kamen. Erregt ließ der junge Mann den Kopf zur Seite sinken und wartete auf den Moment, in dem sie zustießen. Der Schmerz, mit dem sich die spitzen Zähne in seine Haut bohrten und das Fleisch darunter aufrissen, bis das Blut zu fließen begann, war nur das Vorspiel. Erst nach ein paar Sekunden löste sich Williams Welt in einem bunten Kaleidoskop aus Gefühlen auf. Lust und Schmerz tanzten in seinem Körper, eins wurde zum anderen … für immer.
Lust und Zerstörung bestimmen den Biß des Vampirs.
Lust und Zerstörung bestimmen das Denken des Menschen.
Sie sind die stärksten Triebe vor …
und nach dem Tod.