Herold

Wäre dies ein Märchen, würde ich mit „Es war einmal" anfangen und meine Geschichte hätte sicherlich ein gutes Ende. Selbst wenn ihr sagt, dies kann unmöglich geschehen sein – könnt ihr es beweisen? So schweigt und höret denn, was sich hat zugetragen vor langer, langer Zeit.

An einem Abend im Winter, der Wind heult mit den Stimmen des Waldes, trägt vielerlei Gedanken zur Burg hinauf, schleicht sich durch die Ritzen der uralten Mauern und streicht an den vorbeihuschenden Schatten entlang, da geht ein Mann durch die altehrwürdigen Hallen, wie er dort noch nicht gesehen.

An ihm ist nichts besonderes als der schwarze Mantel, mit schwarzen Gemmen befestigt. Sein Schritt ist fest und hallt doch von blutigen Steinwänden nicht wider. Seine Augen scheinen von grünem Licht erfüllt, das seinesgleichen nur in der Dunkelsten aller Nächte findet. Und ist doch kein Lächeln in ihnen.

In einer kalten Halle sitzen sie, die er zu treffen sucht. Er öffnet die eichernen Türen und tritt in ihre Runde ein. Am Fenster sitzen die Frauen und die Kinder und schweigen. Am Feuer liegen die Hunde, mitten unter ihnen sitzt der Narr mit verstummter Krone.

Er bleibt vor dem Tisch stehen und sieht den Männern fest in die Augen. Alt sind sie, vernarbt, Narren, die ewig leben könnten. Den Jungen, der mit kundiger Hand über die vor ihm ausgebreiteten Karten streift, sieht er zum ersten Mal. Die Federn sind ihm an den Flügeln verdorben und können doch nicht abfallen, denn sie sind mit Blut verklebt.

Er schüttelt den Kopf und richtet seinen Blick auf den Mann in der Mitte. „König, Heerführer, Verbündeter meines Herren, ich komme als Herold in eure – Heimstadt. Tod schwebt heran." Seine Stimme schnarrt zufrieden. Es wird Nacht und wo eben die Männer standen, die Kinder und Frauen in kaltem Schweigen saßen und die Meute um ihren Narren wuselte, da ist das Nichts.

„Hört Ihr ihn?

Barfüssig klingen seine Schritte wie die Stiefel tausender Soldaten auf nacktem Felsgestein.

Seine Lederflügel schwirren wie die singenden Bögen und Pfeile in den Händen der Männer.

Seine Stimmen sind die Tränen und Schreie hoffnungsloser Kinder."

Der Alte kennt den Tod gut und kennt ihn gar nicht. Er erschaudert, doch der Herold fährt in seinem Ritual fort, er wispert, er schreit, er taumelt und tanzt. Er steht vor dem Alten, dann steht er neben ihm und haucht grausam wahre Worte und säuselt wie der Winterwind.

„Könnt Ihr ihn riechen?

Seine Versprechen duften wie süßer schwerer Rotwein.

Aber in Wahrheit stinkt er nach verrottenden Körpern in namenslosen Gräbern.

Und nach Angst, Hoffnungslosigkeit und Zorn im Angesicht seines schönen tödlichen Gesichtes."

Der Alte sieht die grünen Lichter zärtlich aufleuchten. Er kennt die Wirren, die sagen, der Tod würde die Gefallen in liebevoller Umarmung wegtragen, bevor sie es wüssten, dass die Ewigkeit im Leben nicht ewig ist.

„Schaut ihn an. Was seht ihr?

Prächtige Rüstungen und Waffen in den Händen starker Männer?

Die verängstigten und hoffnungsvollen und traurigen Gesichter der Frauen?

Spielende Kinder, die noch keine Verzweiflung kennen?"

Der Alte kennt den Mantel schöner Worte und weiß, er mag nichts wert sein, wenn man den Ursprung der warmen Fütterung zwischen den Stoffen kennt. Und doch – ist Wärme, ist Liebe nicht das was der Mensch braucht? Und was er braucht, nimmt er sich.

„Schaut noch einmal hin.

Tausende Gräber voll Unschuldiger.

Tiefe Narben in der Haut und in der Seele.

Hunger, Angst, Krankheit, Ausbeutung, noch mehr Tote."

Der Herold zischt wie tausend Schlangen und der Alte weicht zurück in Furcht, sie mögen ihn angreifen. Und die Furcht wächst zur Angst, als er dräuende Mauern hinter sich spürt. Er wagt es nicht, sich umzudrehen, denn er hört das Ausmaß seiner Taten. Er möchte die Augen schließen und sieht in der sicheren Dunkelheit seinen Jungen mit stolz geschwelter Brust und gebrochenen Flügeln.

„Blut auf den Schwingen der Engel."

Wohin flieht man, wenn einen die Wahrheit im Inneren zerfrisst?

Dies ist meine Geschichte. Sie ist alt. Ich wiederhole sie und ihre Worte zu oft, das Ritual ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich bin ihrer überdrüssig.

Jetzt hört gut zu, ihr Mächtigen:

Ihr hört sein Flüstern, ihr riecht seine Feuer, ihr seht seine Macht.

Und ihr fürchtet ihn.

Aber warum habt ihr ihn in euer Land eingeladen?